Kürzlich, an einem
strahlenden Vorfrühlingstag im März, in einem Gespräch über Gott und die
Welt im Stadtpark, fielen die Worte, „heute morgen bei der Autofahrt habe
ich mich gerne von der Sonne blenden lassen“. Auf den ersten Blick ein
eher deskriptiver Satz, berichtender Natur. Aber halt. Zumindest ein Wort
gibt dem Satz eine tiefergehende Bedeutung. Gerne. Gerne habe ich mich von
der Sonne blenden lassen. Ein Ausdruck der Freude, Freude über das
erwachende Leben, den jungen Frühling und den bevorstehenden Sommer,
symbolisiert durch die aufgehende Sonne mit ihrem Glanz, ihrer
Strahlkraft, ihrer Wärme. Eben das, was zuvor vermißt wurde. Der Winter,
die Kälte, das Sehnen nach neuer Lebenskraft und Energie – mit einem Mal
kommt der Umschwung, der Durchbruch, „nun muß es endlich Frühling
werden...“. Die Hochkonjunktur der Farbe Grau ist vorüber. Aber wie ist es
zu verstehen, daß die Sonne blendet? Eigentlich doch eine unangenehme
Wirkung, nicht zuletzt derer die Sonnenbrillenindustrie jedes Jahr aufs
Neue floriert. Die blendende Kraft der Sonne wird in Kauf genommen, wohl
wissend, daß sie den neuen Tag ankündet. Den ersten warmen Frühlingstag
mit seiner ganzen Vorfreude, der aufgestauten Erwartung; der Tag, an dem
erstmals wieder die Cafétische auf Straßen und Plätzen aufgestellt werden,
an dem man die Jacke wieder lässig über der Schulter trägt, an dem die
Welt um die Mittagszeit in ein Liebeslied einstimmt, das alle Sorgen ein
Stück himmelwärts entrückt. Dafür nimmt man das Blenden gerne in Kauf. Ist
es doch ein lang ersehntes Blenden, und je länger es ersehnt war, desto
lieber erträgt man es nun.
Hat dieser Satz auch eine
metaphysische Ebene? Er hat. Die am Morgen des ersten Frühlingstages
aufgehende Sonne stellt einen Wendepunkt dar. Der alte Lebensabschnitt
endet und mit ihm beginnt ein neuer; aber so ganz neu ist er nicht. Denn
die alte Bekannte, die Sonne, ist wieder dabei, und auch den Frühling und
den Sommer hat man noch vom letzen Mal in Erinnerung. So ist es zwar ein
Weg in die Zukunft, welche naturgemäß ungewiß ist; dennoch gibt es
Konstanten, auf die man sich verlassen kann, an die man sich halten darf,
denen man trauen kann. Zwar schmerzt das „neue Alte“ noch etwas in den
Augen, das aber nur, weil es lange entbehrt wurde und erst wieder
angewöhnt werden muß.
Das alles steckt in
dieser wunderbaren Metapher. Eine Botin des Frühlings – in ihrem
sprachlichen Gewand scheinbar unspektakulär, doch der zweite Blick
offenbart die ganze poetische Kraft dieser Aussage. Ein Glück, sich gerne
von der Sonne blenden zu lassen.
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